Anlässlich des letztjährigen 1.700-jährigen Bestehen jüdischen Lebens in Deutschland sah sich Jürgen Mistol im Regina Filmtheater Regensburg mit rund 30 Gästen den Film „Masel Tov Cocktail“ an. Dieser erzählt vom Alltag des jüdischen Schülers Dima, in dem den Zuschauer*innen durch Dimas Mitschüler, seine Lehrer*innen, aber auch sein eigenes Umfeld verschiedene Facetten des Lebens eines jüdischen Jugendlichen in Deutschland begegnen. So wird Dima unter anderem mit blankem Antisemitismus, vermeintlich gut gemeinten Stereotypen, aber auch der Instrumentalisierung von muslimischem Antisemitismus durch die AfD und der scheinbar unüberwindbaren Feindschaft zwischen Jüdinnen*Juden und Muslimen konfrontiert.
In einer spannenden Diskussion griff Jürgen Mistol anschließend mit den Gästen sowie dem Regisseur und Drehbuchautor des Films Arkadij Khaet, der Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde Ilse Danziger und dem Vorsitzenden der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Stefan Christoph die im Film thematisierten Probleme auf. Dabei betonte Ilse Danziger, dass die Bildung über jüdisches Leben an Schulen nicht nur auf die Verbrechen während der NS-Zeit reduziert werden darf, sondern zugleich Achtsamkeit und Sensibilisierung für Antisemitismus früher und häufiger thematisiert werden muss. Dafür müsse aber schon bei der Ausbildung der Lehrkräfte und Erzieher*innen angefangen sowie mehr und bessere Schulungs- und Unterrichtsmaterialien zur Verfügung gestellt werden. Stefan Christoph stimmte zu, dass bloßes Wissen über die NS-Zeit allein nicht ausreiche. Vielmehr bedürfe es dabei auch einer verstärkten Jugendarbeit im Sinne von Demokratiebildung, die die Gegenwart betrachtet und in die Zukunft sieht.
Arkadij Khaet kritisierte Deutschland als „Erinnerungsweltmeister“, der das Erinnern als eine Art Olympiade betrachte und dennoch die Erinnerungsarbeit meist den überlebenden Jüdinnen*Juden überlassen hat. Ferner müsse die Erinnerung sich weniger auf die jüdische Opferrolle zentrieren, denn „als Jude ist es schwer, aus dem Koordinatensystem von Antisemitismus und Holocaust auszubrechen“. Stattdessen müsse auch die Kontinuität von Antisemitismus aufgegriffen werden. Es sei weniger zu fragen, woher er kommt, sondern vielmehr zu erkennen, dass er nie weg war. Stefan Christoph pflichtete ihm bei, dass Antisemitismus kein Produkt der Moderne ist, sondern er heute nur in anderen und vielfältigeren Formen erscheint. In diesem Zusammenhang stellte Jürgen Mistol klar, dass gerade auch ältere Generationen eigene Stereotypen in Bezug auf das Leben von Jüdinnen*Juden in Deutschland in Frage stellen müssen.
Auf die Frage, was „Nie wieder“ für unsere Gesellschaft bedeute, antwortete Stefan Christoph, dass es notwendig ist, sich mit Antisemitismus in jeglicher Form und aus jeder politischen Richtung auseinanderzusetzen. Man dürfe sich nicht allein auf dem Gedenken ausruhen, sondern jeden Tag „Nie wieder“ sagen. Da Antisemitismus immer salonfähiger und damit sichtbarer werde, müsse im Gegenzug die gesamte Gesellschaft jüdisches Leben sichtbarer machen. Dabei verwies Ilse Danziger unter anderem auf verschiedene Angebote der jüdischen Gemeinde, wie ein Frauenfrühstück für Angehörige verschiedener Religionen sowie die Projekte „religion for peace“ oder „meet a jew“. Für das neue Zentrum der jüdischen Gemeinde in Regensburg sei wichtig gewesen, dass es Türen öffnet und mit der Stadt zusammenlebt. Dem hielt Arkadij Khaet entgegen, dass viele gut gemeinte Programme aber oft die Verantwortung umkehren würden. Denn mangelnde Begegnung mit jüdischem Leben sei auch in den 1930er Jahren kein Problem gewesen, das zum Aufflammen des Antisemitismus geführt hat. Für die Jüdinnen*Juden selbst hätte stärkere Sichtbarkeit dagegen selten etwas Gutes bedeutet.
Nicht zuletzt diskutierten die Anwesenden über die vielschichtigen Identitäten jüdischer Bürger*innen. Alle vier Podiumsteilnehmer*innen waren der Überzeugung, dass eine Reduktion des Judentums auf Religion zu häufig, dafür ein kulturelles Verständnis zu selten verbreitet ist. Ilse Danziger betonte zudem, „Juden sind ein ganz normales Volk wie jedes andere“. Die jüdische Community sei heterogen, gerade die Jugend mittlerweile selbstermächtigt und auch im Judentum würden „gute“ wie „schlechte“ Menschen existieren. Arkadij Khaet plädierte in diesem Kontext sogar dafür, im Rahmen der Erinnerungspolitik auch Ambivalenzen und Widersprüche aufzugreifen, damit der deutsche Umgang mit jüdischem Leben nicht nur von einem puren Täter-Opfer-Verhältnis geprägt werde.
Aus einer solchen Gedenkkultur entkommt man laut der Diskutierenden nur, wenn man das Erinnern mit den Menschen zusammen weiterentwickelt und zugleich alle spezifischen Erscheinungsformen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit offen anspricht.