Rede Jürgen Mistol
Herr Präsident, Kolleginnen und Kollegen!
An allen Maßnahmen, die zur Bekämpfung der Corona-Pandemie ergriffen wurden und ergriffen werden, an jeder einzelnen Maßnahme kann man Kritik üben. So ehrlich müssen wir uns vielleicht schon machen. Es sind letztendlich politische Entscheidungen, zwar getroffen nach Rücksprache mit Expertinnen und Experten aus der Wissenschaft, aber es bleiben politische Entscheidungen.
Die Widersprüche, die dabei entstehen, sind manchmal kaum auszuhalten. Nur ein Beispiel: Die Bibliotheken schließen jetzt. Ich kann also kein Buch ausleihen. Das Buchgeschäft hat offen. Ein Buch kaufen kann ich mir schon. Das sind die Widersprüche, die in diesen Regeln enthalten sind. Diese Widersprüche haben wir aber in vielen Regeln, nicht nur zu Corona. Wie viele Regeln gibt es denn, die tatsächlich widerspruchsfrei sind? – Da wird man wenige finden.
Ich appelliere an uns und auch an die Menschen in unserem Land: Wir müssen diese Widersprüche auch aushalten, wenn wir bei der Bekämpfung der Pandemie wirklich Erfolg haben wollen.
(Beifall bei den GRÜNEN)
Kolleginnen und Kollegen, mit einer gemeinsamen Anstrengung konnte in den letzten Wochen das exponentielle Wachstum der Neuinfektionen unterbrochen werden. Die Maßnahmen im November haben geholfen, zumindest das unbegrenzte Wachstum der Neuinfektionen zu stoppen. Aber sie haben es eben nicht vermocht, die Zahl der Neuinfektionen zu senken. Die Zahl der mit Corona neu Infizierten ist weiterhin hoch. Immer mehr Kliniken kommen an ihre Leistungsgrenze und sorgen sich um die Zahl der freien Betten auf ihren Intensivstationen. Die Zahl der Toten befindet sich auf einem traurigen Rekordniveau. Obwohl es Ende Oktober bzw. Anfang November noch hieß, die in der Ministerpräsidentenkonferenz mit der Kanzlerin beschlossenen Maßnahmen würden lediglich im November gelten, gibt die Zahl der Neuinfektionen im November eine Beendigung der Maßnahmen einfach nicht her. Der Ministerpräsident hat heute gesagt: Es war eine bewusste Entscheidung, diesen Lockdown light zu machen. Dieser war aber mit der Hoffnung verbunden, dass die beschlossenen Maßnahmen wirklich dazu führen, dass die Zahlen nach unten gehen. Wir müssen uns heute ehrlich machen: Das ist schlussendlich nicht gelungen. Die GRÜNEN sagen deswegen: Wir brauchen eine langfristige Strate- gie. Die Infektionszahlen und die Auslastung im Gesundheitssystem verlangen eine Verlängerung der Maßnahmen.
Die Akzeptanz der Maßnahmen ist in Bayern und in ganz Deutschland Gott sei Dank hoch, weil sich die Bevölkerung zum allergrößten Teil der Lage bewusst ist. Die Menschen nehmen in großer Solidarität miteinander schwere Einschränkungen auf sich. Sie fordern aber zu Recht ein, dass es eine Planbarkeit und eine klare Kommunikation über die Maßnahmen und auch über die Bedingungen zu ihrer Beendigung gibt. Die unzureichende Kommunikation nach der letzten Ministerpräsidentenkonferenz am 28. Oktober 2020 war hierzu alles andere als hilfreich. Ich sage Ihnen: Die Akzeptanz der Maßnahmen hängt maßgeblich ab von ihrer Nachvollziehbarkeit und einer klaren Kommunikation, ohne die Widersprüche bei schwierigen Fragen und Abstimmungsprozessen unter den Tisch zu kehren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, für uns GRÜNE ist klar, es braucht weiterhin große Anstrengungen, um die Ausbreitung des Virus zu stoppen und Menschenleben zu retten. Wir GRÜNE tragen deswegen die Beschlüsse der MPK mit. Wir erwarten, dass die Staatsregierung den Spielraum, den die MPK-Beschlüsse den Ländern lässt, im Sinne eines praktikablen Infektionsschutzes gut nutzt und die Hotspot-Strategie noch stärker mit Leben erfüllt.
Ich habe dem Ministerpräsidenten gut zugehört. Er hat gesagt: Das ist nichts Optionales, sondern soll konsequent umgesetzt werden. Wir werden ihn dabei auch beim Wort nehmen.
(Zuruf)
Es braucht eine ehrliche und verständliche Kommunikation, wie wir durch die nächsten Wochen und Monate kommen können. Es reicht eben nicht, auf Sicht zu fahren. Es ist höchste Zeit, eine solche Strategie auch zu kommunizieren. Wir brauchen eine Strategie, deren Halbwertszeit länger als zwei Wochen ist.
(Beifall bei den GRÜNEN)
Es braucht eine klare Perspektive bis zum Frühjahr. Es braucht bundesweit verbindliche Regeln. Alles andere schafft Verwirrung und trägt nicht zur Akzeptanz der Maßnahmen bei. Gerade weil wir die Pandemie nur gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern bekämpfen können, brauchen wir diese Akzeptanz der beschlossenen Maßnahmen in der Bevölkerung. Klarheit, Nachvollziehbarkeit, Verhältnis- mäßigkeit der Regeln stehen dabei an erster Stelle.
Ja, Weihnachten ist nicht nur für die Menschen christlichen Glaubens, sondern für viele Menschen in diesem Land ein Fest der Familie, ein Fest, an dem man Freundinnen und Freunde trifft. Wir müssen auch sagen, die nackten Infektions- zahlen würden eigentlich keine Lockerung erlauben. Über die Weihnachtsfeiertage zu lockern ist eine politische Entscheidung. Die Lockerung ist aus unserer Sicht wichtig für den Zusammenhalt der Gesellschaft und gibt Mut und Kraft. Sie gestattet es, mit den Menschen, die einem teuer sind, wieder einmal zusammenkommen zu können und zusammenkommen zu dürfen. Dürfen heißt nicht müssen. Niemand muss diese Möglichkeit ausreizen. Niemand muss sich mit zehn Menschen treffen. Wir GRÜNEN setzen hier auf Eigenverantwortung und Vernunft.
(Beifall bei den GRÜNEN)
Apropos Eigenverantwortung: Es ist nicht die Zeit des Ichs, sondern die Zeit des Wir. Das gilt auch für den Ministerpräsidenten. Herr Söder, wir GRÜNE halten es nicht für zweckmäßig, schon vor der MPK jede Idee, die Ihnen in den Sinn kommt, in die Öffentlichkeit hinauszuposaunen. Mancher Ihrer Kollegen aus den anderen Bundesländern hat hier einen aus meiner Sicht wohltuenderen Stil an den Tag gelegt.
(Beifall bei den GRÜNEN – Zuruf)
Auch Herr Kretschmann hat einen anderen Stil als Sie. Das ist eine Stilfrage. Es mag sein, dass wir da unterschiedlicher Meinung sind, aber ich stelle das einfach mal so fest.
Ehrlichkeit, Perspektive und Klarheit sind essenziell, um das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die notwendigen Maßnahmen zu stärken. Ehrliche und verständliche Information und Kommunikation sind das Gebot der Stunde. Wir fordern deshalb von der Staatsregierung eine breit angelegte Informations- und Aufklärungskampagne über die beschlossenen Maßnahmen und über die aktuelle Situation – zielgruppenspezifisch, mehrsprachig und barrierefrei.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Krise trifft alle, aber nicht alle gleich. Risiko- gruppen leben in Angst um ihr Leben, ältere und behinderte Menschen in Pflegeheimen und Pflegeeinrichtungen wurden in den ersten Monaten der Pandemie quasi isoliert. Kinder, Familien und Jugendliche waren besonders im Frühjahr durch die Maßnahmen besonders belastet und sind es auch noch heute von den immer wieder drohenden Kita- und Schulschließungen. Um nur einige Beispiele zu nennen: Künstlerinnen und Künstler, Solo-Selbstständige, die Tourismusbranche sowie Gastronomen haben existenzielle Ängste.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir können die Pandemie nur gemeinsam be- kämpfen. Die Maßnahmen dürfen unsere Gesellschaft nicht spalten. Gerade in schwierigen Zeiten brauchen wir gesellschaftlichen Zusammenhalt. Gerade die Schwächeren in unserer Gesellschaft dürfen in der jetzigen Situation nicht aus den Augen verloren werden. Das bedeutet aber auch, die besonders betroffenen Berufsgruppen finanziell und vor allem zeitnah zu unterstützen, um eben die Härten der Einschränkungen abzufedern.
Es lohnt auch ein wachsamer Blick auf Kinder und Jugendliche sowie deren Eltern. Es muss klar sein: Wer die Betreuung braucht, der soll sein Kind in die Kita oder die Schule bringen können. Eltern und Kinder brauchen mehr Sicherheit. Die Staatsregierung darf die Eltern in der Krise nicht wieder alleinlassen wie im Frühjahr. Es muss klar sein: Sollten Schulen und Kitas geschlossen werden müssen, muss es für alle eine Betreuungsgarantie geben, die diese Unterstützung brauchen. Das gilt auch für diese zwei zusätzlichen Tage vor Weihnachten.
(Beifall bei den GRÜNEN)
Wir brauchen gerade für die Schulen Planungssicherheit. Wir brauchen zeitnah flächendeckend Klassenteilungen mit Wechsel- und Hybridunterricht ab Klasse 8. Das ist aus unserer Sicht wirklich das Gebot der Stunde.
Überhaupt muss man sagen: Die Belange von Kindern und Jugendlichen kommen uns GRÜNEN in Zeiten der Pandemie viel zu kurz. Wir als Fraktion haben deshalb hier im Plenum eine große Anhörung beantragt, um den Fokus auf die Lebenswirklichkeit von Kindern und Jugendlichen zu richten.
Aber auch ältere Menschen vermissen den Kontakt zu anderen. Viele fühlen sich alleingelassen. Für uns GRÜNE gilt: Risikogruppen einbinden, statt sie alleinzulassen. Es braucht gute und praktikable Besuchskonzepte in den Altenheimen. Wir brauchen Schnelltests und kostenfrei FFP2-Masken, damit Besuche bei alten, pflegebedürftigen und kranken Menschen möglich sind, damit niemand an den Feiertagen, aber auch sonst allein sein muss. Die einzelnen Einrichtungen und Träger brauchen dabei Unterstützung. Diese Unterstützung erwarten wir von der Staatsregierung. Die Konzepte dafür müssen auch zeitnah konzipiert werden und nicht erst am 20. Dezember.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, seit dem 2. November 2020 steht der Sportbetrieb in Bayern und bundesweit erneut weitgehend still. Bei längerem Andauern des Lockdowns light und bei weiter unklarer Perspektive wird allerdings offenbar, dass der momentane Zustand nicht länger anhalten darf. Es braucht bundesweit möglichst einheitliche Regelungen, um Angebote des Kinder- und Jugendsports differenziert zu ermöglichen. Zudem darf die Corona-Pandemie nicht dazu führen, dass eine Generation von Nichtschwimmerinnen und Nichtschwimmern heranwächst.
(Beifall bei den GRÜNEN)
Schwimmunterricht muss wieder stattfinden können, sobald das epidemiologisch vertretbar ist. Selbiges gilt übrigens auch für die Tätigkeit von Fitness- und Gesundheitsstudios. Wir empfehlen der Staatsregierung, die genannten Einrichtungen genauso wie die Schwimmbäder stärker in den Blick zu nehmen. Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum Schluss. Hilfsversprechen müssen unverzüglich eingelöst werden. Ministerpräsident Söder und die gesamte Bayerische Staatsregierung stehen in der Verantwortung, die Umsetzbarkeit und Umsetzung dieser Hilfsversprechen ganz oben auf die Agenda zu setzen. Unternehmen und Selbstständige können sich nicht von Monat zu Monat hangeln. Sie brauchen eine langfristige Perspektive mit einer schnellen, unbürokratischen Unterstützung, die auch dann greift, wenn nur regionale Einschränkungen vorgenommen werden.
Kolleginnen und Kollegen, es gibt berechtigte Hoffnungen, Corona zu besiegen. Wir haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die es in fast atemberauben- der Zeit geschafft haben, Impfstoffe zu entwickeln, –
Zweiter Vizepräsident Thomas Gehring: Herr Abgeordneter, denken Sie bitte an das Ende Ihrer Redezeit.
Jürgen Mistol (GRÜNE): – die hoffentlich bald die Zulassung bekommen und in absehbarer Zeit eingesetzt werden können. Trotzdem werden wir noch einige Zeit mit dem Virus leben lernen müssen. Wenn aber die Mehrheit der Menschen unse- res Landes weiterhin solidarisch und umsichtig ist, dann dürfen wir frohen Mutes sein, gut durch diesen Corona-Winter zu kommen.
(Beifall bei den GRÜNEN)
Zweiter Vizepräsident Thomas Gehring: Herr Mistol, Sie bekommen noch Rede- zeit. – Der Kollege Prof. Dr. Bausback von der CSU-Fraktion hat sich zu einer Zwischenbemerkung gemeldet.
Prof. Dr. Winfried Bausback (CSU): Geschätzter Kollege Mistol, Sie haben in sehr ruhigem Ton wiederholt, was Ihre Fraktionschefin heute zu Beginn der Sitzung in eiferndem Ton gesagt hat. Sie fordern eine Langfrist-Strategie ein. Nachdem ich gerade noch einmal gegoogelt habe, möchte ich Sie deshalb fragen:
(Unruhe)
Wie verhält es sich mit dem Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, der Ihrer Partei angehört? Wenn man die Schlagworte "Langfrist-Strategie Kretschmann" googelt, findet man außer Kritik am Fehlen einer solchen Langfrist-Strategie nichts. Warum gibt es in Baden-Württemberg nicht das, was Sie hier einfordern? Liegt das nicht etwa daran, weil es in der Corona-Situation gar nicht möglich ist, in einer solch langfristigen Art und Weise vorherzusehen, wie Sie dies vorgaukeln? Hierzu hätte ich gerne eine Antwort. Wenn Sie in Baden-Württemberg nicht selbst eine Langfrist-Strategie verfolgen, dann können Sie diese auch nicht von anderen ein- fordern.
(Unruhe)
Zweiter Vizepräsident Thomas Gehring: Herr Mistol, bitte schön.
Jürgen Mistol (GRÜNE): Herr Kollege Prof. Bausback, wir sind hier in Bayern und für Bayern verantwortlich. Der Herr Ministerpräsident hat heute gesagt, es sei eine bewusste Entscheidung gewesen, keinen richtigen, sondern einen – ich glaube, die Formulierung lautete – "milden" Lockdown zu machen. Insofern wusste man, dass die Zahlen offensichtlich nicht so weit zurückgehen, dass man jetzt, Ende No- vember, tatsächlich wieder Lockerungen vornehmen kann. Das hat man in Kauf genommen. Ich erwarte deswegen von einer Staatsregierung, über diesen Tag hi- nauszudenken und nicht den Eindruck zu erwecken, bis Ende November gäbe es einen Lockdown und danach wäre alles gut. Das erwarte ich durchaus von einem Regierungschef und einer Staatsregierung.
(Beifall bei den GRÜNEN)